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Milton Gendel (1918 – 2018)

Unser Bild des Nachkriegsitaliens, das viele von uns mit „La Dolce Vita“ assoziieren, verdanken wir zu einem Teil den seltsamen Wegen der Bürokratie: Ursprünglich hatte sich der Fotograf Milton Gendel für ein Fulbright-Stipendium nach China beworben, bekommen hat er Italien. Er nahm es an und ging 1949 nach Rom. Und blieb dort für immer.

Milton Gendel, der dem breiten Publikum bis heute bedauernsweiter Weise nicht namentlich, aber durchaus durch seine Fotos bekannt ist, trug maßgeblich zu unserem Italienbild bei, wie wir es heute vom Rom der fünfziger und nachfolgenden Jahre haben. Er portraitierte das Dolce Vita und die lebendige römische Kunstszene mit all ihren schillernden Protagonisten. Er war Beobachter, Denker, Freund der Reichen und Schönen, mehrfach prominent verheiratet und eine der zentralen Figuren im Dialog zwischen der amerikanischen und italienischen Kunstszene, deren europäisches Zentrum sich an der Piazza del Popolo in Rom befand. Als Korrespondent für Art News (und später auch für andere Magazine) berichtete Gendel über die Transformation Roms von einer ruhigen und vom Krieg demoralisierten Stadt, auf deren Straßen die Armut dominierte, hin zu einer Stadt des mondänen Lebens – ein Wandel, der heute nur noch schwer nachvollziehbar ist – gäbe es seine Bilder nicht.

Auch seine langjährigen Freundschaften mit zahlreichen namhaften Künstlern, Sammlern, Schriftstellern, Kunstkritikern, Aristokraten, Prominenten und Royals sind darauf festgehalten. Zu ihnen zählen prominente Namen wie Peggy Guggenheim, Salvador Dalì, Willem de Kooning, Königin Elizabeth II, Truman Capote, Robert Rauschenberg, Leo Castelli, Georgina Masson, Toti Scialoja, Alberto Burri, Piero Dorazio, Alighiero Boetti, Afro Basaldella und viele andere.

Wenn Besuch aus den Staaten nach Rom kam, wurde Milton Gendel regelmäßig von Freunden gebeten, die Gäste durch die Stadt zu führen. Es muss um 1955 gewesen sein, als der berühmte Kunstkritiker Clement Greenberg sich angekündigt hatte. Gendel hatte sich auf alles gründlich vorbereitet. Die Geschichte des Kolosseums hatte er sich extra noch mal durchgelesen, auch die anderer berühmter antiker Stätten. Doch es kam alles ganz anders: Greenberg wollte viel lieber mit Gendel in die Bar Il Baretto in der Via Babuino gehen und das erleben, was Gendels Bilder transportierten: das Leben selbst. Dieser „magic moment“ für die italienische und amerikanische Kunst, in dem „alles“ möglich gewesen ist, hat viele amerikanische Künstler angezogen. Robert Rauschenberg, Cy Twombly, Willem de Kooning – sie alle waren fasziniert davon. Gendel bezeichnete diese Zeit als „Bühne“, auf der sich das Leben zwischen den beiden Polen „Papst“ und „Trattoria“ abgespielt habe, also zwischen dem konservativen, religiösen und dem ausschweifenden, mondänen Leben. Gendel war es, der durch seine Fotos und Texte zwischen diesen Polen vermittelt und der Welt einen Zugang dazu geschaffen hat.

Gendels Arbeiten wurden zwar gelegentlich in Galerien ausgestellt, doch erst 2011 würdigte eine an zwei Orten gezeigte Retrospektive im Museo Carlo Bilotti und der American Academy in Rom sein umfassendes Œuvre erstmal in einem angemessenen Verhältnis. Dies ist verwunderlich, denn Gendel war mehr als „nur“ ein Gesellschaftsfotograf, dessen Bilder einen historischen Wert besitzen. Vergleichbar mit Henri Cartier-Bresson erzählt Milton Gendel in seinen Fotografien mittels einer ganz eigenen künstlerischen Formensprache und einem gewissen Sinn für Humor und zugleich Fragilität die verschiedenen Geschichten der Welt, die ihn umgibt.

Er war zudem ein Kunsthistoriker, Schriftsteller, Intellektueller, Vermittler – die treffendste Berufsbezeichnung wäre wohl „Kulturattaché“. Nach seinem Bachelor of Science im Jahr 1940 entschied sich Gendel für ein Kunststudium in New York und besuchte Malereikurse. Er machte einen Master-Abschluss an der Columbia University und war dort von 1939-41 der Assistent des Kunsthistorikers Meyer Schapiro. Bevor er zwischen 1942 und 1944 mit der amerikanischen Armee nach China kam, war er eng mit der surrealistischen Kunstszene New Yorks verbunden. Nach dem Krieg arbeitete er als freiberuflicher Kunstkritiker und Kunsthistoriker.

Gendels Archiv mit über 70.000 Bildern, seiner Bibliothek und einem Teil seiner Kunstsammlung befindet sich seit 2011 in der Fondazione Primoli in Rom. Als Austausch dafür lebte er bis zuletzt in einer Wohnung im ersten Stock des Palazzo Primoli, mit einer Loggia zum Tiber, in der er sein Atelier einrichtete und bis zuletzt fast täglich arbeitete.

Am 16. Dezember wäre er Hundert geworden. Nun verstarb Milton Gendel am 11. Oktober nach kurzer Krankheit in Rom.

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Abbildung: Milton Gendel in seinem Atelier, Rom 2012 (Foto: Giacomo Marcucci)

Mehr Texte von Sylvia Metz

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