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Marina Abramović - The Cleaner: The artist is almost present

16 schwarze Linsen und 125 weiße Reiskörner. Das ist das Ergebnis meiner Aschenbrödelzählung in Marina Abramovićs Übung „Counting the Rice“ (2015), die zu einer Workshop-Reihe gehört mit dem Titel „Cleaning the House“ (1979 bis heute). Mit Anti-Lärm Kopfhörern, einem Bleistift und einem weißen Blatt Papier ausgestattet, meines Smartphones entledigt, das, wie auch alles andere, was mich ablenken könnte, für diese meditative Übung in einem Schließfach eingelagert werden muss, setze ich mich mit anderen Besuchern an einen langen Tisch. Stille. Obwohl um mich herum andere Menschen sitzen oder herumlaufen, habe ich das Gefühl, ganz bei mir zu sein. Ich nehme mir eine Handvoll Linsen-Reisgemisch, beginne zu sortieren, mache mir Notizen, zähle. Am Ende kippe ich alles zurück auf den Haufen Körner vor mir. Das Blatt mit den Notizen werfe ich weg. So ist das mit dem Leben, denke ich, fühle mich dabei fokussiert auf mein Inneres, habe das Gefühl, einen exklusiven und fast privaten Moment erlebt zu haben.

Doch – zehn Minuten später bemerke ich, dass ich beobachtet worden bin. Über dem Tisch, an dem die Besucher Reis und Linsen zählen, befindet sich eine Balustrade. Dort sind mehrere Ferngläser angebracht, mit denen andere Besucher jede Bewegung der Zählenden nachverfolgen können. Es herrscht reger Andrang unter den Voyeuren. Ich fühle mich, als ob ich gerade erfahren hätte, dass ich vom Nachbarhaus aus seit Wochen ausspioniert wurde. Diese einfache Übung schafft etwas, das selten gelingt: Sie bringt die Besucher mit einfachsten Mitteln in die Rolle der Performerin, indem Kontemplation und Verletzlichkeit wirklich und leibhaftig erfahrbar gemacht werden, vor einem Publikum, dem wir ausgeliefert sind.

„Counting the Rice“ ist eine der partizipativen Arbeiten, die noch bis zum 12. August in der großen, vom Moderna Museet Stockholm organisierten Marina Abramović- Retrospektive „The Cleaner“ in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen sind.

Um es gleich vorweg zu sagen: Wer diese Ausstellung verpasst, dem wird später ein Stück Kunst- und Zeitgeschichte fehlen. Die Retrospektive zeigt einen umfassenden und klug kuratierten Überblick des Werks der wichtigsten Perfomancekünstlerin unserer Tage.

In vier Zeitabschnitten, die zugleich inhaltliche Markierungen im Werk Abramovićs setzen, wird die Entwicklung der Künstlerin anhand ihrer bedeutendsten Werke vorgestellt. Neben partizipativen Arbeiten sind Re-Performances von inzwischen längst legendären Arbeiten wie „Luminosity“ (1997) zu sehen. Diese werden von jungen KünstlerInnen vor Dokumentationen der jeweiligen Original-Performances Abramovićs neu aufgeführt. Neben jeder Arbeit hängen Texttafeln mit den Originalanweisungen, z.T. zusätzlich flankiert von Textpassagen aus Abramovićs Autobiografie. Häufig kommt eine fotografische oder filmische Dokumentation der von Abramović selbst durchgeführten Re-Performances aus den 90er Jahren oder später hinzu, die ebenfalls als Film oder Slide-Show zu sehen sind.

Dieses Vorgehen ist (obwohl bereits 2010 im MoMA in der Retrospektive „The Artist is Present“ erprobt) höchst riskant und geschickt zugleich – und stößt nicht bei allen Besuchern auf Verständnis. Neben mir flüstert jemand „Bei Marina war das bestimmt anders.“ Der junge Künstler, der vor uns auf einem Stuhl sitzt, seine schwarzen langen Haare brutal und schonungslos mit einer Haarbürste in der einen und einem Kamm in der anderen Hand traktiert, ist zweifelsohne beeindruckend, und er erreicht seine ZuschauerInnen, wenn er den Satz „Art must be beautiful, artists must be beautiful“ schreit, der zugleich auch Titel der Re-Performance (Orig. 1975) ist. Doch an das Original kommt er einfach nicht heran, so heftig er auch schreien und bürsten mag. Aber – ist das denn wirklich der Punkt? Muss er das überhaupt?

Die Frage, ob und wie Performances dokumentiert werden können, beschäftigt die Kunstgeschichte seit den ersten performativen Arbeiten der 1960er Jahre. Eine Dokumentation des performativen Akts bedeutet, das Werk in ein anderes Medium zu überführen. Dabei entstehen unvermeidbar Verluste. Wie einst bei der Überspielung eines Films von einer VHS Kassette zur nächsten, wie bei dem Erzählen einer Geschichte, wird der Inhalt von Mal zu Mal verändert. Allein Artefakte bleiben, das Original verschwindet. Während die Performancetheorie noch in den 1990er Jahren (z.B. durch Peggy Phelan) gerade auf der Flüchtigkeit der Performance bestand und diese als unverzichtbares Element begriff, hat sich diese Haltung zunehmend verändert.

In „The Cleaner“ ist der theoretische Performancediskurs der letzten 15 Jahre ablesbar: Es ist nicht vorrangig von Bedeutung, eine Performance durch Dokumente möglichst „echt“ und „genau“ zu rekonstruieren. Viel wichtiger ist es, die Arbeit dem Publikum zugänglich zu machen, dadurch Erkenntnisse zu produzieren – manchmal sogar erst durch die Dokumentation der Performance.

Marina Abramović ist nicht weniger Marina Abramović, wenn wir nur die alte Waschmaschine sehen, statt live dabei gewesen zu sein, als sie ihre erste Schmerzperformance erlebt hat (Damals noch unfreiwillig, und die Künstlerin verlor dabei fast ihren Unterarm. Sie steckte als Teenager ihre Hand in eine Waschmaschine, die diese immer weiter in sich hineinzog und so fast zermangelte). Nicht zufällig heißt das Exponat so, wie die Ausstellung: „The Cleaner“. Das Objekt ist in der Ausstellung am Übergang zwischen Abramovićs noch unbeholfenem Frühwerk und ihren ersten großen Performances platziert. Man kann es nur schwer ignorieren, es steht im Weg.

Es folgen alle fünf Arbeiten des „Rhythm“-Zyklus (1973-74), mit dem Abramović ihren Durchbruch hatte, und „Lips of Thomas“ (1975). In diesen Werken entdeckte die Künstlerin ihren Körper als Material. Einige dieser Performances werden mit historischen Tonaufnahmen Abramovićs dokumentiert. Zu den eindrücklichsten Arbeiten überhaupt im Œuvre der Künstlerin gehört „Rhythm 0“ (1974), in der Abramović die Zuschauer des Studio Morra in Neapel einlud, 72 Gegenstände dazu zu benutzen, mit ihr zu machen, was sie wollten. Auch ein Gewehr war darunter und Rasierklingen. Dass sie überlebt hat, schreibt Abramović später allein den anwesenden Frauen zu.

Natürlich dürfen in einer solchen Ausstellung die Werke mit Ulay nicht fehlen, die zwischen 1976 und 1988 entstanden sind. Gemeinsam haben sie Arbeiten geschaffen, die inzwischen als ikonisch zu bezeichnen sind und ihren festen Platz in der Geschichte der Performances gefunden haben, wie das auf der Biennale di Venezia gezeigte Werk „Relation in Space“ (1976) und „Imponderabilia“ (1977), bei dem die Besucher sich an den beiden nackten Künstlern vorbei drängen müssen, um eine Tür zu passieren. Auch das Ende ihres gemeinsamen Weges, den sie in der „Great Wall Walk“-Performance 1988 für 90 Tage auf der Chinesischen Mauer zelebrierten, ist vertreten.

Die Retrospektive lässt nichts aus – es folgen Abramovićs Biennale-Installation „Balkan Barock“ (1997), in der sie, umgeben von Filmprojektionen mit Bildern ihrer Eltern, 1.000 frische Rinderknochen wäscht und Volkslieder aus ihrer Kindheit singt. Der White Cube ist nun rot bemalt, die Besucher werden Teil von Abramovićs Verarbeitung des Balkankrieges. Hier ist auch die Hommage an ihren Vater installiert, „The Hero“ (2001), in der die Künstlerin u.a. auf einem Schimmel mit einer Friedensfahne zu sehen ist.

Auch das Werk einer Marina Abramović hat Schwächen. Dass die Ausstellung davor nicht Halt macht, spricht für sie. Ein Hinweisschild vor dem Eingang zu „Balkan Erotic Epic“ (2005) warnt davor, dass nachfolgende Szenen von Kindern und Jugendlichen als verstörend empfunden werden könnten. Das kann auch von Erwachsenen bestätigt werden – nicht aufgrund der Sexualität, sondern weil die Arbeit – wie auch die gegenüber präsentierte Serie „Transitory Objects for Human Use“ (ca. 1990-94), in der Abramović mit Kristallen arbeitet, schlichtweg nicht dieselbe künstlerische Qualität aufweist wie die restliche Ausstellung. Diese Arbeiten wirken oberflächlich, esoterisch und plakativ und provozieren eher durch ihre Schlichtheit als durch jene Tiefe, die Abramović sonst auszeichnet.

Es folgen darauf verschiedene Langzeitperformances wie „512 Hours“, die 2014 für 64 Stunden in der Londoner Serpentine Gallery stattfand und in der Abramović ohne Handlungsanweisung und im direkten, unmittelbaren Kontakt auf die Besucher traf. Es sind nun viel stärker die kollektiven Energien und Erfahrungen, die die Künstlerin interessieren, statt wie früher die vorrangige Erforschung des eigenen Ichs und der persönlichen Grenzen.

Das Ende der Ausstellung ist zugleich der Anfang. Die Besucher gelangen in den Raum zurück, der die Dokumentation der Performance „The Artist is Present“ (2010) zeigt, in der Abramović für drei Monate im Museum of Modern Art in New York auf einem Stuhl saß, die Besucher einlud, ihr gegenüber Platz zu nehmen und sie so lange anzuschauen, wie sie wollten. Die Performance dauerte 736 Stunden und die Künstlerin hatte mit 1.675 Personen Blickkontakt. Der Schmerz ist hier – wie in all ihren Performances – Bestandteil ihres Werkes. Täglich saß die Künstlerin wochentags acht und am Wochenende zehn Stunden ohne Unterbrechung bewegungslos auf einem Stuhl. Körperliche Bedürfnisse, die sich einstellten, mussten ausgehalten werden. Der erste Monat war, sagte sie später, schrecklich. Der zweite unaushaltbar. Erst als sie im dritten Monat den Tisch zwischen sich und dem anderen Stuhl wegnehmen ließ, fühlte sie sich besser: die Energie zwischen den ihr gegenüber sitzenden Menschen und ihr habe nun fließen können.

Nach dem Besuch dieser Retrospektive, für die man sich mindestens drei Stunden Zeit einplanen sollte, sieht man das Werk „The Artist is Present“ (2010) nun mit anderen Augen: Es ist die Arbeit, die am stärksten von allen bislang vollendeten das umfasst, worum es Marina Abramović geht: Stets alles zu geben, Schmerzen zu überwinden, die Bewältigung von Angst und Grenzen des Daseins.

Diese Ausstellung ist ein Vermächtnis. Unbedingt ansehen.

Mehr Texte von Sylvia Metz

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Marina Abramović - The Cleaner
20.04 - 12.08.2018

Bundeskunsthalle Bonn
53113 Bonn, Museumsmeile Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 4
Tel: +49 228 9171–200, Fax: +49 228 234154
Email: info@bundeskunsthalle.de
http://www.bundeskunsthalle.de
Öffnungszeiten: Di-Mi 10-21h, Do-So 10-19h


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