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Protektionismus

Das Bild ist stumm und erzeugt dennoch laute Erregung. Gerade die Entspannung und Intimität mögen es sein, die die Gemüter derzeit hochkochen lässt. Ein Mädchen sitzt auf einem Stuhl. Sie ist an einen grünen Polster gelehnt. Die Beine sind angewinkelt, das rechte auf den Boden gesetzt, das linke auf dem Hocker, sodass sich die roten Filzschuhe sichtbar vordrängen. Sie hat die Haare zurückgekämmt und den Kopf zur Seite gelehnt. Ihr blasses Profil zeichnet sich wie ein heller Schatten vor dem Hintergrund ab. Die Hände geben dem Kopf Stütze. Die Arme formen eine Raute. Spitze Dreiecke wie die Leerräume rechts und links ihres Profils gibt es überall in dem Bild: im angewinkelten linken Bein, in der Isometrie der Hockerbeine, in den optischen Verkürzungen der Tischkanten. Die Schrägen werden durch die Stoffe abgemildert. Die Falten und ihre verdunkelten Töne mäßigen die spitzen Winkel. Dazu kommt das Braun der Wand und des Bodens, die gebeizten Möbel und die tiefen malerischen Schatten. Einzig das Hemd sticht hervor, die etwas abgetragene Bluse und das helle Unterkleid. Es ist das Weiß, an das sich das Auge heftet und natürlich der Helligkeitswert der Farben, die quasi rund um den Unterleib des Mädchens zirkulieren.

Es ist fast unmöglich, dieses Gemälde nicht als erotische Träumerei zu lesen und das geöffnete Kleid nicht als lasziven Ursprung der Welt, wie ihn Courbet um ein Vielfaches näher und aufdringlicher malte. Desgleichen ist eine Nähe zum Schlaf des Barberinischen Faun in München erkennbar. Und doch besteht der Maler darauf, sein Gemälde nur strukturell anzusehen. Er weist jede erotische Bedeutung zurück. Es sind die späten 1930er Jahre in Paris. Balthus, der dem Umkreis der Surrealisten angehört, teilt weder deren Besessenheit mit der Triebabfuhr noch mit exzentrischen Träumen. Er malt vorwiegend Portraits von Adoleszenten in unbeobachteter Ruhe. Unter anderem entstehen Bilder von Thérèse Blanchard und ihrem Bruder Hubert. Sie waren Nachbarn des Malers am Cour de Rohan, nahe dem Odeon in Paris. Erstmals erscheinen sie in einem Doppelbildnis. Es ist ein Gemälde in einem leeren Raum, die Schwester den Bruder von hinten umklammernd, er im Begriff sich zu befreien. Noch ist das Geschehen ein Kinderspiel. Die Portraits, die dann von Thérése gemalt werden (1936, Privatsammlung und 1938 im Metropolitan Museum) gehen weiter. Sie zeigen erwachende Sexualität, aber auch nachdenkliche Blicke unter schweren Lidern. Diese Bilder beunruhigen durch ihren Gegensatz von Zuneigung und Begehren auf der einen Seite und einer rigiden, formalen Organisation des Gemäldes auf der anderen. Der Kunstkritiker Robert Hughes sieht eine “Koexistenz zwischen einer oberflächlichen Ruhe und einer Begierde eines Raubtiers”. (Time, 16. April 1984) Balthus’ Sohn, der 1942 geboren wird, schreibt in einem Buch über seinen Vater, dass die Darstellungen der Modelle wie Musen sind. Ihre Jugend sei das Symbol eines zeitlosen Ruhms, einer Transzendenz, ähnlich der, die Plato im Timaios beschreibt. (Stanislas Klossowski de Rola, Balthus, 1983, S. 10).

Gegenwärtig lodert eine politische Debatte. Eine Initiative, die bereits 6.000 Unterschriften sammelte, will das Bild aus dem Metropolitan Museum in New York abhängen lassen. “Ethik und Ästhetik sind eins”, sagte Wittgenstein einmal. Damit war nicht gemeint, dass es für Moral und die Kunst eine gemeinsame Regel gäbe. Auch nicht, dass die Kunst moralisch zu sein habe. Das wäre ebenso widersinnig, wie zu fordern, jede Moral müsse ästhetisch werden. Wittgenstein wies darauf hin, dass sich beide, Ethik und Ästhetik, einer sprachlichen Zurechtmachung widersetzen. Sie gehören einem transzendenten Bereich an, der nicht be-sprochen werden kann. Ist es die selbe Transzendenz, dieses Ungreifbare, von der Balthus’ Sohn sprach?

Und kann es sein, dass jene, die diese Bild aus dem Metropolitan Museum abgehängt sehen wollen, einfach nur die Immanenz sehen, und das, was ihnen die eigene selbstverpflichtende Moral vorschreibt? Dass es ihnen unmöglich ist, das Bild als Bild zu betrachten, sondern nur von seiner vermeintlichen Blickbeziehung her? Und sie sich selbst blind machen für die Kunst wie der Voyeur, dem sie die Lust anlasten, die sie selbst an sich entdecken? Und kann es sein, dass wir einem neuen Protektionismus entgegen sehen, der verbietet, worin Kunst auch ihren Sinn findet, nämlich in der Offenlegung des Unberechenbaren, dem Begehren, dem Unbehaglichen und Mehrdeutigen, ja nicht zuletzt demjenigen, dass sich einer versachlichenden Sprache entzieht? Nur weil Ethik und Ästhetik einander ähnlich sind, heißt das noch nicht, dass Moral oder Gesetze über Kunst befinden dürfen und wir Kunstwerke, auch wenn sie bedenklich sein mögen, in Geiselhaft nehmen können. Wer dieses Bild verschwinden lässt, macht sich der Zensur schuldig. Daneben muss er wohl einen Großteil der Kunstgeschichte als unangemessenes Erbe verräumen. Oder soll die Glyptothek darüber nachdenken, den schlafenden Faun zu entfernen und das Museum of Modern Art, die Demoiselles d’Avignon, das Gemälde Picassos, das bekanntlich Nackte in einer Bordellszene zeigt? 

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Abbildung: Balthus: Thérèse Dreaming, 1938, Öl auf Leinwand, 150 x 130 cm, Metropolitan Museum New York City
Barberinischer Faun, ca 220 n Chr. 1,81 Höhe, Marmor, Glyptothek München

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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